Archive for August, 2021

Baer aktuell 302 – 3. Aug. 2021

Sonntag, August 1st, 2021

Bild des Monats August 2021:

Jürgen Raap, „Kunibert der Wachsame“, Acryl/Öl auf Leinwand, 2021

Bär aktuell Nr. 302 – 3. Aug. 2021

Vermurkster Wahlkampf Wer ein bisschen Ahnung von Grafik Design und Kommunikationstheorie hat, der lacht sich über die aktuellen Wahlkampfplakate schibbelig. Da haben sich tatsächlich irgendwelche Werbedeppen dazu durchgerungen, Christian Lindner den Blick vom Betrachter abwenden zu lassen, d.h. dem Betrachter nicht in die Augen zu schauen, sondern ein bisschen ratlos und ein bisschen versonnen wirkend seitwärts irgendwo hin ins Leere. Wobei doch die kommunikative Grundregel, erst einmal Blickkontakt her zustellen, jeder beherrscht, der irgendwo ein Scherflein von einem Euro erheischen will, aber eben nicht die FDP auf Stimmenfang. Noch dilettantischer kommen die Plakate der SPD daher, in deren Parteikasse offenbar das Geld für einen richtigen Profi-Fotografen fehlte. Die Plakate sehen jedenfalls so aus, als ob man in einem alten Verbrecheralbum fündig wurde und ausgebleichtes erkennungsdienstliches Material auf Scholz und Mützenich zurecht retuschiert hat. Beim Anblick des Mützenich-Plakats fragt sich Herr Bär jedenfalls, ob schon eine Belohnung auf die Ergreifung des Abgebildeten ausgesetzt ist. Das Olaf Scholz-Fahndungsfoto haben sie auch noch mit dem Text „Respekt für Dich“ versehen, wobei man wissen muss, dass die Einforderung von Respekt vor allem in den Kreisen von Gangsterrapper-Darstellern beliebt ist, so dass der Slogan „Vorsicht, Schusswaffengebrauch!“ auf diesem Wahlplakat mit Scholz eigentlich angebrachter wäre. „Die Partei“ wirbt mit dem CDU-Politiker Jens Spahn, was allerdings nicht besonders originell ist, seit man weiß, dass schon Annalena Baerbock in ihrem „Sachbuch“ ausgerechnet auch bei der CDU abgeschrieben haben soll. Bei den Grünen würde daher mit souveräner Selbstironie der legendäre Baerbock-Versprecher „Kobold“ statt „Kobalt“ nicht nur für Lacher („Bereit sein für Kobold“), sondern auch für Sympathiepunkte sorgen, aber den Klamauk überlassen sie in diesem Wahlkampf dann doch lieber den „Die Partei“-Satirikern, und dass die „Sozialistische Gleichheitspartei“ völlig bierernst für die Abschaffung des Kapitalismus eintritt, war eigentlich auch nicht anders zu erwarten und mildert die Langeweile dieses Wahlkampfes keineswegs. © Raap/Bär 2021

Wahlkampfpalakt 2021, Foto: S. Kallnbach
Wahlkampfpalakat 2021, Foro: S. Kallnbach
Wahlkampfpalakt 2021, Foto: S. Kallnbach

Geimpfter Sänger sucht Sängerin“ (Kontaktanzeige in der Kölner „Stadtrevue“). Offen bleibt die Frage: Muss die Sängerin nun auch geimpft sein oder reicht ein Jodeldiplom?

Schlagzeilen, wie wir sie lieben: „Er kam mit Perücke und ging mit Glatze“ (Die BILD-Zeitung über die Maskerade eines Bankräubers)

„Herr Pang macht Peng“ (Die BILD-Zeitung über einen chinesischen Athleten beim olypmischen Luftpistolen-Wettbewerb)

Totalitäre Tendenzen sieht die Autorin Judith Sevinç Basad in der Identitätspolitik und der Cancel Culture der moralisch überheblichen Empörungsindustrie und attackiert in ihrem Buch „Schäm Dich“ die „Denkverbote und Unschärfen in den Argumenten einer selbsternannten kulturellen Elite“ (O-Ton Spiegel Bestseller-Newsletter). „Selbstkritik“ mussten ideologische Abweichler früher bekanntlich nur in stalinistischen Systemen üben, aber heute haben auch in den liberalen Demokratien manche das Gefühl, man dürfe bisweilen nicht mehr sagen, was man wirklich denkt, ohne massive berufliche oder gesellschaftliche Nachteile befürchten zu müssen: da wird mit jakobinischer Raserei die geringste sprachliche Unbedachtsamkeit mit Verbannung geahndet. Eine Bereitschaft zur Selbstkritik oder gar zum Selbsthass versucht jene Empörungsindustrie heute in erster Linie den sogenannten „alten weißen Männern“ anzudienen, die selbst aber weder für ihre Hautfarbe noch für ihren Geburtsjahrgang verantwortlich sind, und die -sofern sie dem Prekariat mit z.B. 600 Euro-Rente, Kurzarbeiter-Geld oder Hartz IV-Sozialhilfe angehören – in dieser Gesellschaft auch keineswegs so privilegiert sind, wie manche Angehörige der gutsituierten akademischen Bioladen-Schickeria, vulgo: der urbanen Hipster-Szene und ihrer intellektuellen Vordenker vielleicht glauben. So gibt denn auch die Poetik-Professorin Kerstin Hensel zu bedenken: „Berufsdenker… haben kein Publikum außer ihresgleichen. Nur weil sie sich mit komplexen Fragen beschäftigen, heißt das nicht, dass alle anderen es auch tun… Das Verdrängen von Problemen, die nicht das eigene Lebensumfeld betreffen, ist für sie ein notwendiger Abwehrmechanismus, um die Realität zu bewältigen…“, was nichts anderes heißt: „Reflexionsverweigerung“ kann auch eine Strategie sein, sich einer Vereinnahmung oder Umerziehung seitens jener empörungsindustriellen Eiferer zu widersetzen. Oder um es einmal mit dem rheinischen Populärphilosophen Günter Eilemann sowohl etwas polemisch als auch reichlich nonchalant-fatalistisch auszudrücken: „Küsste hück nit (kommst du heute nicht), küsste morgen, kein Theater, un kein Sorgen. Mir is alles janz egal, weißte, wat, die künne mich mal“. Ergo: Der Rheinländer neigt bisweilen nicht nur zur Gelassenheit, sondern sogar zur Gleichgültigkeit; denn ihm ist jegliche Form von Fanatismus und Rigorisität fremd, und sein metaphysischer „Et kütt wie et kütt“-Stoizismus ist mithin eine bewährte Abwehrhaltung zugunsten einer „Freiheit von Neigungen und Affekten“. Wer nicht im Gleichschritt marschieren will, der will gewiss auch nicht in einer uniformen Weise denken oder schreiben und sprechen müssen. Man muss ja nicht immer sofort in vermeintlich gutmenschlicher Betroffenheit à la Katrin Göring-Eckhardt in Tränen ausbrechen, wenn in China mal ein Sack Reis umfällt, und jedes Influencer-Dummchen, dass sich in den sozialen Medien verbreitet und sich dann auch noch im Trash-Privat-TV in einen „Big Brother“-Container begibt mit der Referenz, vorher schon in einer Quizsendung völlig unwissend an der Unterscheidung zwischen Prof. Drosten von König Drosselbart gescheitert zu sein, muss man ebenfalls nun wirklich nicht kennen. Höchst aktuell lässt sich zusammenfassend in diesem Kontext William Shakespeare zitieren: „Desto schlimmer, dass Narren nicht mehr weislich sagen dürfen, was weise Leute närrisch tun“ (aus: „Wie es Euch gefällt“).

Dass die grüne Kanzlerkandidatin schon wieder etwas verbaerbockt hatte, wurde in den Medien genüsslich verbreitet, wiewohl der „Kölner Stadtanzeiger“ fairerweise konstatierte, „die anderen Kanzlerkandidaten“ Laschet und Scholz stünden auch nicht viel besser da. Erneut bewies Annalena Baerbock nämlich geografische Unkenntnis, als sie bei einem Ortstermin in Barnim/Brandenburg in gewohnter Plapprigkeit meinte, der Wald dort „im Oderbruch“ sei „anders als der Wald im Süden des Landes“. Die Gazette „Die Welt“ korrigierte: „Der Oderbruch liegt etwa 50 km weiter östlich“ und merkte süffisant an, der ebenfalls anwesende Robert Habeck habe bei Baerbocks verkorkster Waldbetrachtung „an ihrer Seite betreten zu Boden“ geschaut. In einem von Pannen und Plagiaten geprägten Bundestagswahlkampf muss sich der Kandidat Armin Laschet Vergleiche mit Gerhard Schröder gefallen lassen, der die Bundestagswahl 2002 wohl auch deswegen gewonnen haben soll, weil er beim Oderhochwasser damals instinktsicher in Gummistiefeln Präsenz zeigte und medienwirksame Bilder als scheinbar zupackender Macher lieferte, wo Laschet in den Augen seiner Kritiker eher als zu zauselig empfunden wird. Immerhin verkniff sich Armin Laschet bei Ortsterminen in den Überflutungsgebieten Wahlkampf-Auftritte in Gummistiefeln, um nicht auch noch als Schröder-Plagiator gescholten zu werden. Olaf Scholz war auch da vor Ort und tat das, was er immer tut, nämlich mit einem höchst muffligen Gesichtsausdruck in die Kamera zu starren wie Clint Eastwood in „Dirty Harry“: wo Laschet sich nach Ansicht vieler einen unangebrachten Lacher hätte verkneifen müssen, kommt Scholz erst gar nicht auf die Idee, dass es in anderen Lebenssituationen überhaupt mal etwas zu lachen geben könnte. Annalena Baerbock kam ohne Pressetross im Anhang in die Eifel und redete dort diesmal keinen Unsinn, so dass es Robert Habeck erspart blieb, wieder einmal betreten zu Boden schauen zu müssen. Copyright Bär/Raap 2021

Ach, Annalena. „Schwarze werden als Neger verunglimpft“. Dieser Satz ginge „wohl noch unter Normalos durch, weil dieser Satz, wenn auch in positiver Absicht, das diskriminierende N-Wort als Normalfall verwendet. Für Grüne ist er allerdings ein No Go“, schrieb Ulrich Reitz in „Focus online“. Es ist ein Irrglaube jener „Hundertprozentiger“ (so Ulrich Reitz über die Hardcore-Apostel der politischen Korrektheit) sich einzubilden, eine Diskriminierung höre wohl automatisch auf, wenn man einfach bestimmte Vokabeln aus dem Sprachschatz tilgt. So funktioniert das eben doch nicht. Herr Bär hätte sich bis jetzt nicht vorstellen können, Annalena Baerbock mit ihrer Neigung zur Plapprigkeit jemals in Schutz nehmen zu müssen, aber wenn sie in einer Diskussion über Alltagsrassismus aus einem Schulaufgabentext wortwörtlich zitiert, dann ist dieses Zitat doch korrekt wieder gegeben, auch wenn darin eine heut zu tage umstrittene Vokabel vorkommt. Bereits vorhandene oder gar ältere Texte spiegeln immer die Zeitumstände wider, unter denen sie entstanden sind, und diesen aktuellen oder historischen Zeitgeist kann man aus heutiger Sicht nun mal nicht begreifen, wenn man die Texte im nach hinein zensiert. Da geht es ja nicht nur um Fragen des Urheberrechts, sondern eben auch um solche der zeitgeschichtlichen Authentizität. Polemisch ausgedrückt: 2016 wurde Adolf Hitlers „Mein Kampf“ gemeinfrei, und das Institut für Zeitgeschichte gab daraufhin eine kritische Neu-Auflage mit zahlreichen Anmerkungen heraus. Die Schrift des „bayerischen Bierkelleragitators“, der Hitler in den frühen 1920er Jahren war, ist „gekleidet in ein Gewand von Hetze und Propaganda. Der Inhalt: völkisch, rassistisch und antisemitisch; die Sprache: unsauber, unbeholfen, gestelzt“, so der Bayerische Rundfunk in einer Rezension. Doch würde man Hitlers wirre und schreihalsige Propagandaphrasen heute nicht gründlich missverstehen, ja, würde man sie nicht sogar verharmlosen, wenn man solch ein ungeheuerliches Vokabular, das dann später ganz brutal u.a. 1938 in Heinrich Himmlers Erlass zur „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse“, mündete, in einer heutigen Neuauflage oder auch nur in fragmenthaften Zitaten aus diesen alten Texten mit Gendersternchen oder Umschreibungen wie „Regelung der Frage über Menschen südosteuropäischer Herkunft“ sprachlich manipulieren würde? (oder müsste Himmlers Erlass aus Sicht des Jahres 2021 gar als „Mensch*innen aus dem Wesen der Rasse“ redigiert werden?) Der surrealistische Dichter Philippe Soupault veröffentlichte in den frühen 1920er Jahren einen Roman mit dem Titel „Der Neger“, auf deutsch 1982 neu aufgelegt, als eine „Geschichte von Edgar Manning, einem Dealer, Jazzmusiker, Mädchenhändler und Mörder. Der Roman stellt die Frage nach dem Verhältnis von schwarzer und weißer Kultur, deren Spannungsverhältnis er auf mitreißende, sehr subtile – und intelligente, denkende – Weise herstellt“ (Rezension der „Nürnberger Nachrichten“). Müsste man für eine heutige weitere Neuauflage das Buchcover mit dem dann politisch korrekten Titel „Der N****“ dennoch neu gestalten? Nein, findet Herr Bär. „Es ist Zeichen fortschreitender Aufklärung, wenn das N-Wort heute nicht mehr gesprochen und geschrieben wird – es sei denn im aufklärerischen Kontext. Deswegen ist Annalena Baerbocks Entschuldigung nachgerade unvernünftig“, schreibt Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung. Und bei der Ausstrahlung des Baerbockschen Interviews jetzt an markanter Stelle einen Piepton einzublenden, erinnert peinlicherweise an die Zensurpraktiken in den prüde-puritanischen USA, die in ihren Medien sogenannte „four letter words“ wie „Fuck“ tabuisieren, sich bigotterweise aber gleichzeitig die weltweit größte Porno-Industrie leisten. Motto: „Sex sells“ (Sex verkauft sich gut, der „Me Too“-Bewegung zum Trotz).

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