Archive for Juni, 2024

Baer aktuell 337 – 22. Juni 2024

Samstag, Juni 1st, 2024

Bild des Monats Juni 2024: Jürgen Raap, „Das Weltbild der Ungerechten“, Acryl/Öl auf Leinwand, 2024, Untermalung und Endfassung

Baer aktuell 337 – 22. Juni 2024

Es gehört zum Wesen einer funktionierenden Demokratie, dass bei Wahlen nicht nur seriöse Politiker antreten dürfen, sondern auch allerlei komische Kauze, Schreihälse und andere Sonderlinge, Sektierer, Hysteriker und Fanatiker wie jetzt bei der Europa-Wahl. 

Das muss man aushalten, auch wenn ausgerechnet die FDP-Spitzenkandidatin Agnes Strack-Zimmermann zur Empörung ihrer sozialdemokratischen Koalitionspartner kürzlich Bundeskanzler Olaf Scholz unterstellte, er zeige Anwandlungen von Autismus. Das entlockte sogar dem BILD-Kolumnisten Franz-Josef Wagner die Bemerkung, Strack-Zimmermann benähme sich damit wie eine „freche Oma“ und trete „lümmelhaft“ auf. Wer mag, der kann in Strack-Zimmermanns krawalliger Wortwahl eine weitere Verrohung der Sitten im politischen Diskurs beklagen. Wobei sich bizarrerweise dieses Verbalgeholze innerhalb der Regierungskoalition abspielte, die ein halbwegs harmonisches Miteinander auch nach knapp drei Jahren immer noch nicht auf die Reihe kriegt.

Agnes Strack-Zimmermann stellte anschließend ungewohnt kleinlaut klar, sie habe doch nicht die Autisten in diesem Lande beleidigen wollen, was aber dann im logischen Umkehrschluss bedeutet, sie wollte wohl ganz bewusst Olaf Scholz mit Schmäh und Häme überziehen: bei dem hat sie sich nämlich nicht entschuldigt.

Der Sparfuchs und FDP-Chef Christian Lindner verschreckte derweil die Ü 60-Generation, bis Olaf Scholz endlich mal ein Machtwort sprach und Lindners rentenpolitische Ideen als „absurd“ geißelte. An dieser Einschätzung ist nun wirklich nichts Autistisches, und für Scholz ist das sogar schon eine ungewohnt klare rhetorische Meisterleistung.

Und dann hatte schon vorher die Grünen-Chefin Ricarda Lang Christian Lindner, der um Herrenreiterallüren nie verlegen ist, hinterher gerufen, sie selbst werde im Unterschied zu ihm keinesfalls auf Sylt heiraten. Wie Hans Zippert in „Die Welt“ satirisch überspitzt räsonnierte, sei die Insel Sylt nämlich mittlerweile durch das massenhafte Einfallen von lärmig rüden Punks mit 49 Euro-Ticket, Lindners dreitägiger opulent-protziger Hochzeitssause und unlängst dann auch noch durch gesangliche Entgleisungen von sturztrunkenen juvenilen Ober- und Mittelschicht-Touristen in einem Etablissement namens „Pony Club“ nachhaltig in Verruf geraten. 

In besagtem „Pony Club“ kostet übrigens die Currywurst mit Fritten 16 Euro, mit Trüffelfritten 20 Euro, falls jemand vorhat, dieses Gericht dort als Hochzeitsmenü zu bestellen. Originelle Orte zur Vermählung gibt’s auch anderswo: in Köln z.B. heiratete ein Paar kürzlich in der Trauerhalle des Bestatters Christoph Kuckelkorn, neben einem Sarg.

Das „Bündnis Sarah Wagenknecht“ (BSW) will klugerweise bei der Aufnahme neuer Mitglieder Skandalnudeln, andere verschrobene Gesellen und selbsternannte Heilsbringer konsequent außen vor lassen: „Wir passen… auf, dass keiner reinkommt, der unsere Programmatik nicht teilt oder destruktiv und chaotisch wirken würde.“ Agnes Strack-Zimmermann und Christian Lindner würde der Wagenknecht-Fanclub also wahrscheinlich nicht aufnehmen.

Zumal das Ehepaar Wagenknecht-Lafontaine ganz andere Vorstellungen von der Gestaltung einer Hochzeitsfeier hat als die Lindners. Als Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine sich seinerzeit das Ja-Wort gaben, staunte „Die Welt“: „Oskar Lafontaine hat wieder geheiratet. Ohne Ankündigung und ohne Feier, ohne Gäste und ohne anschließendes ‚Es geben ihre Eheschließung bekannt: …‘ Sogar ohne Ringe. Eigentlich ohne alles.“

Über Wähler wie Herrn Bär beklagte man sich laut „Der Westen“ bei ARD und ZDF: Herr Bär hatte nämlich an der Europawahl per Briefwahl teilgenommen und daher nicht beim Verlassen des Wahllokals zu einer „Nachbefragung“ zur Verfügung gestanden, und da inzwischen aus Bequemlichkeit auch viele andere auf diese Weise so wählen wie Herr Bär, seien wegen der vielen Briefwähler nun die Hochrechnungen bei ARD und ZDF um 18 Uhr bedauerlicherweise ungenauer als früher. Doch sollte man nur deswegen den Weg zum Wahllokal in einer Ehrenfelder Grundschule auf sich nehmen, um dann beim Warten vor der Wahlkabine in einem Klassenzimmer die Kartoffeldrucke der Erstklässler an der Wand zu bestaunen, was der Kabarettist Richard Rogler schon vor vielen Jahren bewitzelte, bloß damit bereits um 18.10 Uhr mit schon halbwegs präzisen Hochrechnungen live immer wieder die üblichen TV-Rituale mit den Spitzenkandidaten abgespult werden („Ich bedanke mich zunächst einmal bei allen unseren Wählerinnen und Wählern“) und jeder sich dann das Wahlergebnis schön redet? Nicht so Lennart Rixen, Ortsvereinsvorsitzender der SPD Geseke, der realistischerweise und mit einer für Politiker seltenen Selbstkritik die „bestrunzte Kampagne“ (O-Ton Rixen) seiner Partei ausgerechnet mit dem glücklosen Olaf Scholz als Blickfang auf den Wahlplakaten mit klaren Worten bejammerte: „Die Kampagnen der anderen waren auch nicht gut, aber unsere war ja wohl ein einziger Autounfall.“ Mit einem Crash-Wahlergebnis von nur 13,9 Prozent, und das eben ohne Vollkaskoversicherung für selbst verursachte Unfallschäden. Über das ebenso desaströse Abschneiden der deutschen Grünen ergoss sich der „Der Spiegel“ mit gewohnter Süffisanz und sieht die Sonnenblumenpartei sogar nur noch als Nachfolgeorganisation von Trude Unruhs „Grauen Panthern“: Die Grünen „mögen beim reiferen Metropolenbewohner noch eine gewisse Attraktivität ausstrahlen“, aber längst nicht mehr bei der jüngeren Generation, denen wohl die hedonistische Work-Life-Balance wichtiger ist als die EU-Düngemittelverordnung. Wird Olaf Scholz angesichts des Wahl-Desasters seiner Partei dem Beispiel Emmanuel Macrons folgen und Neuwahlen ansetzen? „Der Spiegel“ verneint dies: „Olaf Scholz wird Olaf Scholz bleiben und erst einmal gar nichts machen.“

Löblich ist die Entscheidung der UEFA, als Maskottchen für die aktuelle Fußball-EM einen Bären zu wählen, wiewohl dessen Name „Albärt“ ein wenig albern klingt und „Albärt“ optisch auch nicht sehr sportlich wirkt. Aber weitaus dämlicher sah bei der WM 2018 in Russland als Maskottchen der Wolf mit Skibrille aus. Wer den tieferen Sinn eines Maskottchens begreifen will, der lese Sigmund Freuds Abhandlung „Totem und Tabu“. Das Totemtier der archaischen Gesellschaften verlängert sich geistesgeschichtlich in die Tierdarstellungen in unseren modernen Wappen als Hoheitsabzeichen (Bundesadler, bayerischer Löwe). Der 1. FC Köln hält sich mit dem realen Geißbock Hennes auch so eine Art modernes Totem-Maskottchen oder Clan-Abzeichen.

Walter, der Orang Utan aus dem Dortmunder Zoo, muss gar als Orakel herhalten und soll die Ergebnisse aller sechs EM-Spiele im Dortmunder Stadion vorher sagen: man legt ihm in zwei Eimern je einen Fanschal oder ein Trikot in den Käfig. Je nachdem, welchem dieser Gegenstände er zuerst sein Interesse zuwendet, gilt dies als Siegtipp. „Zunächst hatte sich Walter dem Eimer mit dem Deutschland-Schal zugewandt, zeigte dann aber auch noch Interesse am schottischen Schal“, berichtete der WDR über Walters Verhalten vor dem Eröffnungsspiel, was seine Pfleger denn auch affigerweise nur einen recht knappen Ausgang der Partie Deutschland-Schottland vermuten ließ, die dann allerdings bekanntlich doch recht deutlich mit 5:1 für die Nagelsmann-Elf ausging. Völlig daneben lag unterdessen Theo, der Tapir aus dem Allwetter-Zoo von Münster, der mit aufgeregtem Rüsselwackeln auf Schottland getippt hatte.

Neben Abby, dem Pinselohrschwein im Frankfurter Zoo und den Seelöwen im Leipziger Zoo, versucht sich auch Oscar, ein Bobtail aus Bocholt, als Orakel. Im Internet sind bei ihm schon immerhin 26.000 Follower auf den Hund gekommen, so dass man Oscar durchaus den Status eines Influencers bescheinigen kann.

Dem Bären Albärt bleibt es hingegen erspart, auch noch als Orakel fungieren und dabei mit Walter, Abby, Theo und Oscar konkurrieren zu müssen. Schließlich wird seine Erscheinung in den Public-Viewing Fanzonen durch die penetrante Dominanz einer Bierreklame überlagert, die für eine bestimmte Marke als ein UEFA-Monopolgesöff wirbt, und ebenso durch Meldungen über einen sogenannten „Youtuber“, der sich als Albärt verkleidet und dies mit einem Albärt-Kostüm ausgerechnet aus China und mit gefälschter Akkreditierung subversiverweise ins Stadion schlich. So endet denn diese Glosse mit dem Zitat aus dem Gedicht „Das Bier Orakel“ von Marina Garanin: „Ich habe einen kleinen Brauch, Ein Ritual, wie andre auch: Ergreift mich starke Wissensgier Dann trink ich ein Orakelbier… Bald sagt es ‚Ja‘, bald sagt es ‚Nein‘ – Kann das Orakel richtig sein?“ Na, dann Prost und völlig losgelöst.

Herr Bär kannte mal einen Zeitgenossen, der hielt „Castrop-Rauxel“ für einen französischen Badeort und sprach den Namen französisch aus als „Castroo Rocksäll“. Er war dann sehr erstaunt, als man ihn darüber aufklärte, dass das eine unscheinbare Stadt im Ruhrgebiet sei. Nun sagen die Franzosen zu „Paris“ phonetisch „pari“, während Konrad Adenauer seinerzeit von „Parriss“ sprach, so dass es legitim ist, den Facebook-Gründer Mark Zuckerberg nicht „Sackerbörg“ zu nennen, sondern „Zuckerberch“, weil im Deutschen ein Endungs -g nämlich wie „ch“ ausgesprochen wird. 

Es heißt also phonetisch „Könich“ und nicht „König“, wie man im von Theodor Siebs herausgegebenen Aussprachewörterbuch nachlesen kann, das erstmals 1898 unter dem Titel „Deutsche Bühnenaussprache“ erschien und dessen Regeln später noch lange für jeden Nachrichtensprecher im TV und jeden Radioreporter verbindlich waren, während sie heute vermehrt Moderatoren ans Mikrofon lassen, die einfach nur vor sich hinnuscheln oder ihre Texte schon mal zwischendurch gehäuft mit stottrig klingendem „äh“ oder „öhem“ garnieren. Bereits 2020 beklagte sich die Münchener FDP darüber, die Durchsagen in den Münchener U- und S-Bahnen seien schon auf Deutsch schwer verständlich, man solle sie stattdessen lieber auf englisch vornehmen. 

Aber die berüchtigte Floskel „senk ju vor träwelling wis Deutsche Bahn“ hört sich noch grauenvoller an als das lustlos dahin genuschelte „Wegen verspäteter Bereitstellung des Zuges verzögert sich die Abfahrt nach Castrop-Rauxel heute um 45 Minuten.“ „Bereitstellung“ heißt auf Englisch „provision“, und darunter versteht man im Deutschen etwas anderes. Dass sie bei der Deutschen Bahn eine Provision kriegen, wenn die Bahnen mal pünktlich sind, glaubt Herr Bär nämlich nicht. Und wie man bei der erwähnten Durchsage „Castrop-Rauxel“ auf Englisch ausspricht, weiß Herr Bär auch nicht. Copyright: Raap/Bär2024